Psychische Erkrankung: Depression und ME/CFS
TRIGGERWARNUNG: Drogenkonsum, S*elbstverle*zung

„Ich möchte nicht mehr in mein altes Leben zurück, wenn ich wieder gesund werde. Ich will nie wieder […] mein Leben danach ausrichten, mir selbst und anderen zu beweisen, dass ich es verdient habe Wertgeschätzt, respektiert und geliebt zu werden.“
Sarah
In diesem Interview geht es um Sarah und über das Thema psychische Erkrankungen.
Im Jahr 2021 wurde bei Sarah erstmals eine schwere depressive Episode sowie eine Angststörung diagnostiziert. Eine Depression ist eine schwere Erkrankung, bei der Menschen über mehrere Wochen, Monate oder sogar Jahre in ein emotionales Tief fallen. Die Betroffenen können sich selten allein von ihrer gedrückten Stimmung, Antriebslosigkeit und ihren negativen Gedanken befreien und benötigen oft eine gute medikamentöse und psychotherapeutische Behandlung. Unter bestimmten Umständen können Depressionen hinter einem Schleier aus Erkrankungen versteckt sein. So ist es auch bei Sarah, ihr wurde ME/CFS (Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom) diagnostiziert. Das Syndrom ist eine neuroimmunologische Erkrankung, welche in einem hohen Grad körperlicher Behinderung resultieren kann.
Wie sich Depressionen und ME/CFS bedingen und welche Behandlung bei Sarah Fortschritte erzielt, könnt ihr im Interview mit ihr Lesen:
Erzähl gerne etwas über dich.
Ich bin Sarah, 31 Jahre alt und lebe seit 10 Jahren in Berlin. Aktuell in Berlin-Neukölln. Ich komme aus einer kleinen Stadt nähe Leipzig. Ich habe vor kurzem meinen Master in Public Health gemacht und davor ganz viele Jahre als Krankenschwester gearbeitet.
Welche Art von psychischer Erkrankung hast du und wie nimmst du die Auswirkungen dieser wahr?
Mir wurde eine schwere depressive Episode diagnostiziert. Im September 2021 das erste Mal. Außerdem wurde mir eine Angststörung diagnostiziert. Und ich habe me/cfs, was eigentlich keine psychische Erkrankung ist, aber eine massive emotionale Komponente hat.
Zu meinen Depressionen lässt sich sagen, dass ich mich schon deutlich länger von einer Depression betroffen gefühlt habe, bevor sie mir diagnostiziert wurde. Ich habe mich auf jeden Fall davon betroffen gefühlt, andererseits hat sie mich nicht wirklich davon abgehalten, ein glücklicher Mensch mit einem erfüllten Leben zu sein, zumindest nicht den größten Teil der Zeit. Es gab immer wieder besonders schwere Episoden zwischendurch. In denen ich sehr verzweifelt war, sehr traurig, sehr ängstlich und das Gefühl hatte, die Kontrolle zu verlieren und manchmal nicht das Bett verlassen konnte, aber trotzdem gab es auch immer ganz viele Sachen, die mir Halt gegeben haben. Ich muss dazu sagen, dass es mit der Zeit von Episode zu Episode schlimmer wurde.
Die Auswirkungen von me/cfs sind deutlich stärker auf mein alltägliches Leben. Ich kann nicht mehr arbeiten gehen. Ich habe Sorge um meine finanzielle Situation. Ich habe das Gefühl, dass ich langsam verschwinde. Ich kann Sachen nicht mehr machen, die mir Spaß machen und Leute nicht mehr sehen, die ich liebe und oft nur sehe, wenn sie mich besuchen kommen. Ich musste meine Masterarbeit im Bett schreiben und unglaublich viele Verabredungen absagen, auf die ich mich sehr gefreut habe. Ich habe täglich Schmerzen und bin die ganze Zeit auf Hilfe angewiesen.
Denkst du, dass me/cfs dadurch gekommen sein kann, dass du depressiv warst/bist oder dass die Depression ein Teil von me/cfs ist?
Die Frage ist nicht leicht zu beantworten. Ich würde sagen, dass Traumata, Stress und bestimmte Verhaltensmuster, die ich habe und die ich mit vielen anderen Betroffenen gemeinsam habe, bei der Entstehung eine Rolle gespielt haben.
Kannst du dich erinnern, wann die Symptome begonnen haben?
me/Cfs: Ich beschäftige mich zur Zeit viel mit den Ursprüngen meiner Erkrankung und denke mittlerweile tatsächlich, dass die Ereignisse, die die Krankheit verursacht haben, in meiner frühen Kindheit passiert sind. Die ersten Ereignisse waren wahrscheinlich schon, als ich 2-3 war und die Sachen, an die ich mich bewusst erinnern kann, im Alter zwischen 6 und 12.
Meine me/cfs Symptome haben im Jahr 2021 damit angefangen, dass ich mich zunehmend immer erschöpfter gefühlt habe. Verschiedene Infektionen hatte und hauptsächlich ist mir aufgefallen, dass meine Arme super schwer waren, als hätte ich Zement in ihnen.
Meine erste depressive Episode habe ich mit 20 erlebt. Wobei ich im Rückblick sagen muss, dass ich schon immer öfter eine traurige Teenagerin gewesen bin.
Gab es Trigger, welche die Krankheit ausgelöst haben oder andere Faktoren, die den Verlauf begünstigt haben?
In meiner Kindheit haben ganz viel die in meiner Generation sehr üblichen Probleme eine Rolle gespielt. Ich habe in meiner Kindheit und Jugend oft Gefühle von Zurückweisung und Ersetzt Werden erlebt. Diese Gefühle werden heute auch noch öfter bei mir getriggert. Außerdem haben sie verschiedene Glaubenssätze bei mir hervorgerufen, die wiederum verschiedene Verhaltensmuster bei mir ausgelöst haben, die mir leider einige Jahre schon relativ viel Stress bereiten. Zum Beispiel habe ich immer das Gefühl gehabt, dass ich selbst nur Wertschätzung verdiene, wenn ich sehr viel leiste. Dazu muss ich außerdem sagen, dass ich der Meinung bin, dass mich und viele andere von uns das Patriarchat, die Leistungsgesellschaft und der Kapitalismus krank machen. Oder zumindest nicht dazu beitragen, dass unsere psychische und körperliche Gesundheit erhalten bleiben bzw. wachsen kann.
War der Konsum von Betäubungsmitteln für dich ein möglicher Weg, aus der Krankheit rauszukommen? Oder sind Betäubungsmittel ein möglicher Faktor, welcher zu deiner Krankheit geführt hat?
Drogen und Betäubungsmittel haben bei mir eine Rolle gespielt. Bei mir sind sie nicht die Ursache meiner Erkrankungen. Ich bin der Meinung, dass sie das generell selten sind. Natürlich machen Drogen die Dinge nicht leichter. Sie haben bei mir dazu beigetragen, dass ich länger vor meinen Symptomen davonlaufe, statt mich konstruktiv mit meinem Heilungsweg zu beschäftigen.

Gab/gibt es andere Dinge/Verhaltensweisen/Tätigkeiten, in denen du dich während deiner Krankheit verloren hast/verlierst?
Ich hab ne Weile lang sehr viel Trash-TV geschaut, weil ich nicht so ne richtige Idee hatte, was ich trotz der Erschöpfung machen kann. Jetzt hab ich allerdings fast alles gesehen was mich interessiert. Wenn ich sehr erschöpft bin, sitze ich manchmal sehr lange in der Dusche. An den schlechten Tagen ist dies auch der einzige Ort zu dem ich es schaffe, wenn ich das Bett verlassen will.

Bist oder warst du in Therapie und wenn ja, wie hilfreich ist/war sie für dich?
Ich mache zurzeit ein Coaching Programm, welches auf emotionale Heilung für me/cfs Betroffene abzielt. Und sehe gelegentlich in diesem Zusammenhang einen Coach. Ich bin tatsächlich dazu gekommen, weil ich sehr erschwerte Bedingungen bei der Therapieplatzsuche habe, da es dort wo ich wohne sehr schwer ist und ich in diesem Zusammenhang ein paar blöde Erlebnisse hatte. Ich bin aber jetzt sehr glücklich mit dem Coaching Programm, da es mich dazu bringt, sehr tief in meine Traumata, meine Verhaltensmuster und meinen Schmerz zu gehen und mich dort mit meinem Erschöpfungssyndrom dort abholt, wo ich abgeholt werden musste.
Ich gehe zu verschiedenen Selbsthilfegruppen, was etwas sehr empowerndes hat, da man als me/cfs betroffene Person sonst nicht sehr viel Hilfe bekommt innerhalb des Systems und man viele gute Tipps bekommt und einfach sieht, dass man nicht allein ist.
Ansonsten habe ich sehr großes Glück gehabt, weil ich bei einer Studie, bei der ein Reha Konzept für me/cfs Betroffene getestet wird, in die Interventionsgruppe gekommen bin und daher bald zu einer 4–5-wöchigen Reha-Maßnahme fahren werden, bei der die verschiedenen Aktivitäten an mein Energielevel angepasst sind.
Wurden dir Medikamente verschrieben? Wenn ja, welchen Einfluss hatten diese auf dich?
Ja, mir wurde ein Antidepressivum verschrieben. Es hat mir leider nicht geholfen. Ein anderes habe ich probiert und nicht vertragen. Dann habe ich die Sache mit den Medikamenten aufgegeben, was ich eine ganze Weile sehr schade fand, weil ich eine ganze Menge Leute kenne, denen Medikamente sehr gut helfen. Mittlerweile habe ich damit Frieden geschlossen, weil ich es jetzt so wahrnehme, weil es eine Chance ist meine Probleme an der Wurzel zu packen, mich mit meinen Traumata auseinanderzusetzen und an meinen schädlichen Verhaltensmustern zu arbeiten.
Beschreibe deinen Alltag vor und während deiner Krankheit. Welchen Einfluss hat die Krankheit auf deine Lebensqualität?
Bevor ich starke Erschöpfungssymptome bekam, habe ich sehr viel gearbeitet und gelernt. Ich war auch etwas viel feiern. Es war nicht so, dass ich das alles ungern gemacht habe. Diese Dinge haben mich schon erfüllt. Dennoch würde ich jetzt das heute nicht mehr so machen. Ich habe mich mit der Arbeit und dem Lernen ganz schön unter Druck gesetzt und meinen Wert darüber definiert. Somit hat die Krankheit einen großen Einfluss auf mich, weil ich die Dinge, über die ich mich definierte, jetzt nicht mehr machen kann. Ich entwickle jetzt langsam neue Interessen, die mich nicht so unter Druck setzen. Es tut mir gut, aber es ist ein langer Prozess.
Hast du über Selbstverletzung nachgedacht?
Ja ständig, aber ich lasse es sein und später freue ich mich darüber. Und dann versuche ich mich das nächste Mal eben daran zu erinnern, dass ich mich darüber gefreut habe, es gelassen zu haben.
Gibt es Leute, die dich in deinem Leben/Alltag/Bewältigung der Krankheit unterstützen? Wenn ja, wie helfen sie dir?
Ja, meine Familie und Freunde sind extrem supportive. Sie kommen mich besuchen, sie hören mir zu. Sie helfen mir beim Einkauf und fahren mich manchmal zu Terminen. Sie behandeln mich nicht als Opfer, wodurch mir ein gewisser Grad an Normalität erhalten bleibt. Besonders schön finde ich auch, dass sie mir die Gelegenheit geben, mir bei ihren Problemen zuzuhören, Anteil zu nehmen und Rat zu geben. Weil ich so das Gefühl habe, dass ich trotz dessen, dass es mir so geht, wie es mir geht, etwas zu geben habe. Die größte Unterstützung ist meine Mama. Sie hat mir schon tausendmal beim Haushalt geholfen, mich zu verschiedenen Terminen gefahren und ist finanziell eine große Unterstützung für mich, da es für me/cfs keine Therapien gibt, die von der Krankenkasse übernommen werden. Deshalb muss man viele verschiedene Sachen ausprobieren, die sehr teuer sind. Da wäre ich ohne sie komplett aufgeschmissen.
Hast du einen Ratschlag für Personen in einer ähnlichen Lage?
Auch wenn du verzweifelt bist und dir das Leben unerträglich vorkommt: Nichts bleibt, wie es ist. Du wirst geliebt und wenn du nicht für dich kämpfen kannst, dann versuch für die zu kämpfen, die dich lieben. Man kann es immer erstmal versuchen und sich dann später noch fürs aufgeben entscheiden.
Falls dir noch Dinge einfallen, welche du loswerden möchtest, kannst du diese gerne einfach noch erzählen.
An alle Leute die Angehörige oder Freunde mit chronischen Erkrankungen haben: Meldet euch immer mal wieder bei den Betroffenen und fragt ob ihr sie unterstützen könnt oder sie einfach nur reden wollen. Es ist ein gutes Gefühl, wenn man merkt, dass man nicht vergessen wird.